Liebe Leserin, lieber Leser,
manchmal sagt man: „Lebe jeden Tag, als wenn es dein letzter wäre.“
Immer wieder in Gesprächen komme ich mit Menschen an den Punkt, dass wir anfangen, Bilanz zu ziehen oder nach einem Gesamtergebnis des bisherigen Lebens zu suchen.
Viele Erinnerungen an schöne Zeiten (die oft leider vergangen sind) kommen hoch und Erinnerungen an schwere Zeiten (die hoffentlich vorbei sind). Und dazwischen schleichen sich häufig Gedanken ein, in denen es um Dinge geht, die es eben nicht gab: die nicht gemachte Reise, das nicht gebaute Haus, die nicht erreichte Arbeitsstelle, das unerreichte Glück. Vieles bleibt ja offen im Leben.
Was mache ich dann mit meinen täglichen „letzten Tagen“, an denen ich aufstehe? Den Druck, das alles aufzuholen, ertrage ich nicht. Für manches bin ich inzwischen auch zu alt, zu vernünftig, zu dumm oder ganz einfach zu träge. Vor mir türmt sich ein Berg von Aufgaben und das finde ich eher belastend. Oder ich habe das Gefühl, dass ich das gleich ganz sein lassen kann.
Und dann sagte jemand zu mir: „Wie wäre es, wenn du jeden Tag lebst, als wäre es dein erster?“
Ich fange an, den Blick loszureißen von all dem, was ich versäumt habe (oder glaube, versäumt zu haben). Ich verzichte darauf, viel Energie dahinein zu investieren, was ich kaum greifen kann oder was wirklich im Augenblick nicht geht. (Schließlich bin ich ja auch noch verpflichtet: im Beruf, in der Familie, bei Freunden oder an vielen anderen Stellen. Was würden die sagen, wenn ich mich einfach verabschiede und mich um meinen „letzten Tag“ kümmere?)
Ich schaue auf diesen neuen Tag als wäre es mein Erster. Der Tag liegt offen vor mir und ich konzentriere mich auf das, was er mir Neues bringt. Mitten im oft grauen Alltag lasse ich meine Sinne wach bleiben. Das geht auch neben der Arbeit und manch anderen Verpflichtungen.
Habe ich dieses Lächeln wirklich schon einmal richtig wahrgenommen? Hat dieser Baum heute ganz neue Farben?
Unendlich viel kann ich entdecken im ganz normalen Wahnsinn des Alltags.
Vielleicht ist es das, was der Psalm 118 uns sagen will: „Dies ist der Tag, den der HERR macht; lasst uns freuen und fröhlich an ihm sein.
Ihr Pfarrer Wigbert Lehner
PS.: Die Wahrheit liegt, wie so oft, vermutlich irgendwo zwischen den beiden Betrachtungsweisen.
